First Principles & First Values: Zweiundvierzig Propositionen zu kosmo-erotischem Humanismus, der Meta-Krise und der Welt von Morgen
Einladung zu einer deutschsprachigen Online-Studiengruppe
Liebe Neugierige,
die Texte des kosmo-erotischen Humanismus berühren, wecken auf und machen unruhig. Das sollen sie auch. Es ist ein Weckruf an unsere tiefe Menschlichkeit, und unser Aktivwerden in einer Zeit, die kaum brisanter sein könnte. Es ist Zeit aus der Isolation zu kommen, uns klar zu werden, wo wir stehen, wer wir sind und was jetzt für jeden Einzelnen zu tun ist.
Wir bieten eine deutschsprachige Online-Studienguppe an, in der wir gemeinsam anhand des neu erschienenen Buches First Principles and First Values, das gerade sukzessive ins Deutsche übersetzt wird, die Texte studieren, bewegen, reflektieren und verinnerlichen. Weitere Details zu Anmeldung findest du am Ende des folgenden Abdrucks des Einleitungskapitels (das den Seiten 5-31 im englischen Original entspricht).
Das Folgende ist die ins Deutsche übersetzte Einführung des neuen Buches “First Principles and First Values” von David J. Temple. (Erstübersetzung: Dorothea Betz, auf “dharmische” Stimmigkeit überprüft von Kerstin Tuschik) Wir werden sukzessive weitere Teile des Buches übersetzen, die wir dann in unserer Online-Studiengruppe diskutieren.
David J. Temple ist ein Pseudonym, das für die weiterführende kollektive Autorenschaft am Center for World Philosophy and Religion kreiert wurde. Die zwei Haupt-Autoren, die sich hinter David J. Temple verbergen sind Marc Gafni und Zak Stein. Für verschiedene Projekte werden weitere spezifischen Autoren als Teil der Kollaboration benannt. In diesem Band tut sich Ken Wilber mit Dr. Gafni und Dr. Stein zusammen.
Dr. Marc Gafni ist ein visionärer Welt-Philosoph und Futurist, einer der führenden Formulierer einer Welt-Spiritualität und -Religion unserer Zeit und ein geliebter Lehrer und öffentlicher Intellektueller mit einem Dokorat in Philosophie von der Oxford Universität. Er hat mehr als zwanzig Bücher geschrieben, einschließlich Your Unique Self, A Return to Eros, und das dreibändige Radical Kabbalah.
Dr. Zak Stein ist ein Pädagoge, innovativer erziehungswissenschaftlicher Theoretiker, und Futurist, der sich auf Entwicklungstheorie und Metrik spezialisiert hat, mit einem Dokorat in Philosophie von der Harvard Universität. Er ist unter anderem der Autor des Buches Education in a Time Between Worlds.
Ken Wilber ist der Schöpfer der Integralen Theorie, mit über 25 Büchern unter seinem Namen. Er ist einer der einflussreichsten Philosophen unserer Zeit.
Einführung: Über die Neudefinition von Value (Wert) und die Verwirklichung der Intimität mit allen Dingen in Zeiten der Meta-Krise
Die Welt ist nicht mehr die Gleiche wie zu der Zeit, als die großen Weisheitstraditionen erstmals begannen, den Menschen wieder in den Kosmos einzubinden. („Religion“ leitet sich von lateinisch religare ab, was „binden, verbinden“ bedeutet.) Sie taten das, indem sie ein Field of Value (Feld des Wertes) identifizierten, an dem alles Leben teilhat.
Im letzten Jahrhundert haben sich die menschlichen Lebensbedingungen so tiefgreifend verändert wie in keiner bekannten geschichtlichen Zeitperiode vorher. Technologien und gesellschaftliche Entwicklungen führten dazu, dass sich das Zentrum der Kultur immer weiter vom Field of Value entfernte.
Die Menschheit hat sich von der Realität entbunden, genauer gesagt: sie hat sich von der Reality of Value (Realität des Wertes) abgespalten. Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit für die Entwicklung neuer Formen von Religion, Philosophie und Kultur, die in der Lage sind, Value (Wert) zu rekonstruieren und die Menschheit wieder mit Natur und Realität zu verbinden.
Die Sorge um das Erbe der großen Traditionen haben die hier gesammelten Schriften mit der modernen Tradition der Philosophia Perennis (immerwährenden Philosophie) gemeinsam. Diese Tradition postuliert einen gemeinsamen Kern an Wahrheiten, der überall in den Schlüsseltexten der religiösen Vorstellungen der Menschheit sowie in den Texten der inneren Wissenschaften (interior sciences) zur Kontemplation gefunden werden kann.
An dieser Stelle führen wir den Begriff eines sich entwickelnden Perennialismus (evolving perennialism) ein, so dass universelle und ewige Wahrheiten identifiziert werden können, ohne fixiert zu sein. Ewige Values (Werte) entwickeln sich.
Wie im Folgenden weiter ausgeführt, ist das einer der Wege, der über die vernichtende Kritik, die Moderne und Postmoderne zurecht an akzeptierten Formen von Value übten, hinausführt. Das Versagen früherer Traditionen, die Value auf den Thron gesetzt hatten, bedeutet nicht das Ende von Value. In unseren Händen dient diese Kritik der Evolution von Value.
Im gesamten hier vorliegenden Text streben wir danach, die Einsichten jener Traditionen, die Value direkt im Gewebe des Kosmos verorteten, zu integrieren. In einem Moment höchster Not versuchen wir die tiefsten Einsichten darüber, was intrinsisch wertvoll, heilig und gut ist, herauszuarbeiten und gleichzeitig zu beschreiben, was es bedeutet, diese Wahrheiten zu kennen, zu kommunizieren und sie in Kultur, Psyche, Organisationssteuerung und Technologie zu integrieren.
Bevor wir uns den 42 Propositionen zuwenden, ist es notwendig, einige der wichtigsten Ideen vorab einzuführen.
Auch wenn diese Einführung in keiner Weise den gesamten Text ersetzen kann, dient sie doch dem Ziel, ein erstes Gefühl für die wesentlichen Ideen zu ermöglichen. Der Rest des Textes stellt die Begründung und Ausarbeitung des Gesamtbildes dar, das in diesen ersten Seiten umrissen wird.
Eine universelle Grammar of Value (Grammatik des Wertes) als Kontext für unsere Verschiedenheit
Herzstück des kosmo-erotischen Humanismus ist die Artikulation einer universellen Grammar of Value, die der gesamten Menschheit als Kontext für ihre Vielfalt gemeinsam ist, und die die Menschheit darüber hinaus auch mit der Natur und dem Kosmos im Allgemeinen teilt.
Eine Grammatik ist etwas, das alle, die eine Sprache sprechen, miteinander teilen. Die Ausrichtung entlang der grammatikalischen Parameter ermöglicht jeder einzelnen Person ihren einzigartigen Ausdruck. Analog ist eine Grammar of Value universell für jeden einzelnen gültig und lässt gleichzeitig Raum für einzigartige individuelle Ausdrucksformen, Manifestationen und Entwicklungen.
Die Formulierung einer solchen Grammar of Value ist die wesentliche Basis für jegliche kohärente Vorgehensweise von planetarem Maßstab, die in der Lage ist, die Spezies zu bewahren. So gesehen ist es offensichtlich, dass die Erschaffung bzw. Entdeckung der Grammar of Value einer der vorrangigsten moralischen Imperative unserer Zeit ist.
Diese universelle Grammar of Value muss den Kontext für unsere Vielfalt bilden. Daher darf sie nicht nur willkürlich sein, sondern muss klar in First Principles und First Values (fundamentalen kosmischen Grundprinzipien und Grundwerten) verwurzelt sein, die ihrerseits in eine kosmische Story of Value (Geschichte des Wertes) eingebettet sind.
Es muss gezeigt werden, dass Value real ist und unsere gemeinsame Treue gegenüber Value muss selbst-bewusst und ehrenwert sein. Andernfalls würde eine neue Story of Value zu einer aufgenötigten Fiktion, so wie es die Postmodernisten behaupten, und keine realisierte und validierte Wahrheit, so wie wir das gemeinsam mit so vielen anderen Traditionen des Werterealismus sehen.
kosmo-erotischer Humanismus ist kein Projekt, das totalisiert oder homogenisiert. Vielmehr ist er die (Wieder-)Erschließung eines überaus vielfältigen und einzigartigen Menschseins - und eine Bewegung der Wiedervereinigung von Personhood (Menschsein, Person-Sein) mit den intrinsischen Werten des Kosmos.
Eine neue Story of Value
Kosmo-erotischer Humanismus zeigt, dass man sich mit keinem Detail der Realität, der Materie, des Lebens bis hin zum Geistigen legitim auseinandersetzen und Sinn machen kann, solange man der Großartigkeit und des Mysteriums des größeren kosmischen Field of Value and Story (Feld des Wertes und der Geschichte) entfremdet ist. Tatsächlich ist Story keineswegs nur eine menschliche Erfindung. Das ist eine weitere zentrale Idee des kosmo-erotischen Humanismus.
Wie wir später in Proposition elf zeigen werden – und wir werden dem Entwickeln dieser Proposition bald einen eigenen Band widmen – stellen Sprache, Story und Narrativ einen Teil der Ontologie der manifesten Realität selbst dar.
Bis hierher stellen wir zunächst einfach fest, dass die Realität einen Erzählbogen, inhärentes Telos und Richtung hat. Es gibt inhärente Plotlines ((Handlungsstränge), seltsame Attraktoren, wenn man so will, oder das, was wir im kosmo-erotischen Humanismus ‚Lure of Value‘ (Verlockung des Wertes) nennen.
Die Bewegung von Quarks hin zu Kultur ist voll inhärenter kreativer Freiheit. Auf allen Ebenen der Realität finden wir Story. Und die Story der Realität ist die Evolution von Eros und Intimität, was wir im Folgenden in den Gleichungen der inneren Wissenschaften formell definieren werden.
Die Story der Realität – eine kosmo-erotische Liebesgeschichte, in welcher Menschen die einzigartigen Fähigkeiten zu Bewusstheit, Freiheit und Verantwortung haben – ist immer schon von Plotlines animiert, die eine immer tiefere Emergenz von Eros und Value vorantreiben.
Wir sprechen hier und andernorts von ErosValue – ein stehender Begriff, der auf das Herz der evolutionären Dynamik der Realität hinweist. Dieser Begriff wurde so geprägt um die absolute Untrennbarkeit von Eros und Value und die Rolle von Eros als übergeordneten Wert zu bezeichnen. Eros, dessen Ausdruck allen Value manifestiert und alle Handlungsstränge in Richtung Liebe treibt.
Sich entwickelnde First Principles und First Values sind die Plotlines der Realität
Durch Komplexitätstheorie, evolutionäre Biologie und den Theorien zur universellen Grammatik in der Linguistik verstehen wir, dass eine einfache, begrenzte Anzahl grundlegender (erster) Prinzipien emergente, selbst-organisierende hochkomplexe Systeme generieren kann, die sich dann in Formen mit nahezu unvorstellbarer Anzahl von Einzelteilen weiterentwickeln.
Grundmuster erschaffen den Möglichkeitsraum, in den sich chaotische Emergenz hinein entwickelt, wie wir es überall beobachten können angefangen von zellulären Automaten bis hin zur Spieltheorie.
In anderen Worten, wir haben schon vor Jahren festgestellt, dass die gleichen einfachen First Principles, die die äußere Realität in komplexe und kohärente Ganzheiten organisieren, als First Values die inneren Realitäten von Sinn (purpose) und Bewusstsein in komplexe und kohärente Ganzheiten organisieren. Lasst uns das näher erklären.
Faktisch sind First Principles und First Values die Plotlines der Realität, die Bewegungsbahnen der evolutionären Entfaltung. Sie sind die intrinsischen Values und ontischen Prinzipien, die das Fundament menschlicher Weltanschauung bilden sollten – zumindest, wenn wir danach streben in Übereinstimmung mit dem Sinn des Lebens und den Gegebenheiten der Natur zu leben.
Da dies die Ausrichtung unserer Arbeit hier ist, lasst uns das im Vorfeld noch weiter ausführen. Einige Grundlagen müssen sorgfältig gelegt werden, um zu diesen wirklich tiefgreifenden Themen Zugang zu bekommen.
Was sind die grundlegendsten Basisaspekte der Realität? Was ist die Basisstruktur und -natur des Universums? Die meisten modernen Menschen, die dazu neigen, sich nach dem zu richten, was in den Universitäten und über gut finanzierte, regierungsgeförderte Forschung gelehrt wird, würden sich für Antworten auf obige Fragen an die Wissenschaften wenden, und sie würden Dinge wie Zeit, Raum, Materie, Energie, Bewegung und Kausalität postulieren.
Wir behaupten schlichtweg, dass das eine viel zu enge und limitierte metaphysische Sichtweise ist. Zu meinen, dass die Realität nur Zeit, Raum, Materie, Energie, Bewegung und Kausalität ist, wird nicht einmal der gesamten Breite der Physik als Disziplin gerecht.
Es wurde gezeigt, dass Zeit und Raum ein Kontinuum sind, Materie und Energie sind als äquivalent bewiesen und Kausalität und Bewegung können auf subatomarer Ebene, wo die Quanten-Unschärferelation regiert, nicht mehr angewandt werden.
Unsere Sichtweise ist jedoch, dass das Universum noch weit wilder ist als selbst diese Offenbarungen der nach-Einstein’schen Physik.
Die Grundprämisse ist hier, dass Value und Bewusstsein der Liste der fundamentalen, relevanten kosmischen Gegebenheiten hinzugefügt werden müssen.[1] Genauer gesagt: es muss dies die dominante Sichtweise werden, die in den Quellcode der Kultur selbst integriert wird, so dass sich die kulturelle Stimmung der Menschheit wandelt und sich unser Gefühl für das, was möglich ist, verändert.
Ohne das wird es, wie ich unten weiter ausführen werde, unserer Spezies nicht gelingen durch die Meta-Krise zu navigieren und wir werden wahrscheinlich innerhalb von zwei Generationen das Ende des Lebens, wie wir es kennen, erleben. Das Projekt, tatsächlichen, begründeten, intrinsischen Value im Herzen der Kultur zu platzieren, ist dringend, und es steht alles auf dem Spiel.
Vieles wird schlüssig, wenn Value und Bewusstsein (wieder) an ihren gebührenden Platz als Urprinzipien des Kosmos gerückt werden. Dadurch wird die Architektur des Universums in seiner Komplexität sichtbar und unserer Erfahrung des Universums (und die Erfahrung unserer selbst im und als das Universum) angemessen.
Unsere Arbeit fokussiert sich auf ein Set von First Principles und First Values als Versuch der Klarstellung und Formalisierung der grundlegendsten Realitäten, die prinzipiell existieren müssen, und die daher auch universelle Quellen intrinsischen kosmischen Values sind. Sie dadurch als Basis für eine neue Weltanschauung verfügbar zu machen, ist die Absicht dieser Arbeit.
Um es klarzustellen: es geht hier nicht nur um eine Beschreibung dessen, was das Universum macht, sondern um ein Verstehen dessen, wonach es strebt – welche Sehnsucht das Sein und Werden des Universums animiert. Bewusste Evolution, wie wir sie definieren, geschieht, wenn eine Spezies sich dessen bewusst wird, dass sie in, als und durch einen Evolutionsprozess lebt - und sich dann entscheiden kann, in Übereinstimmung mit den inhärenten First Principles und First Values zu leben, die in die größere evolutionäre Story of Value eingebettet sind.[2]
Evolution als fortschreitende Vertiefung von Intimität
Eines dieser First Principles und First Values ist Intimität. Das bedeutet, dass eine bestimmte Definition von Intimität verwendet werden kann, um die Funktionsweise des Universums auf sehr basale Weise zu erklären und dadurch Intimität als fundamentalen Wert des Kosmos zu begründen.[3]
Intimität, so wie sie hier definiert ist, erleben Menschen, wenn sie als Individuen eine Identität im Kontext relativen Andersseins teilen und eine Gegenseitigkeit von Erkennen, Fühlen, Value und Sinn besteht.
Stell dir eine Familie vor, in der jede Person einerseits einzigartig und gleichzeitig als Familienmitglied identifiziert ist und darin ein unterschiedliches Maß an gegenseitigem Erkennen, Fühlen, Wert und Sinn erlebt.
Diese Intimität sorgt für Familienzusammenhalt und wird von jenen, die von ihrer integrativen Kraft profitieren, intrinsisch wertgeschätzt.
Wir argumentieren, dass eine ähnliche Art von Intimität auf allen Ebenen der Evolution auftritt, dass sie Teil dessen ist, wie der gesamte Kosmos funktioniert (Kohärenz durch zunehmende Intimität) und außerdem Teil des intrinsischen Value des Kosmos ist, der besagt, dass sich alles, auf allen Ebenen, nach mehr Intimität sehnt und sich in diese Richtung bewegt. Die Suche nach immer weitreichenderen und tiefgreifenderen intimen Kohärenzen animiert den Kosmos, wirkt auf allen Ebenen der manifesten Realität und bildet die einende Basis allen Seins und Werdens. So gesehen ist die Realität Intimität und gleichzeitig ist sie das Streben nach fortschreitender Vertiefung von Intimitäten (Evolution der Intimität) in all ihren Ausdrucksformen.
So werden die Struktur der menschlichen Intimität und das Sehnen danach, an ihrer Wurzel, von der gleichen Kernqualität von Anziehung und einem Sehnen nach intimer Gemeinschaft (Kommunion) animiert in einem dialektischen Tanz mit dem Verlangen nach Autonomie. Intimität und das Verlangen nach Intimität ziehen sich als Kontinuum durch die gesamte evolutionäre Entwicklungsgeschichte, auch wenn die genaue Beschaffenheit ihrer Qualität und das Bewusstsein, das mit dem Verlangen nach Intimität einhergeht, offensichtlich nicht kontinuierlich ist. Sie sind auf jeder unterscheidbaren Ebene der Realität einzigartig in ihrer Ausprägung.
Beispielsweise unterscheidet sich die menschliche Erfahrung der Intimität je nach dem Grad der psychologischen Reife und des Bewusstseins eines Individuums. Auch wenn ein Individuum Teil des größeren gemeinsamen Feldes der Intimität ist, und von den gleichen Grundsätzen gesteuert wird, ist die menschliche Intimität doch offensichtlich anders als Intimität zwischen Atomen, Molekülen, Zellen, Organen, dem Körper von Pflanzen, Fischen, Tieren und anderen Säugetieren.
Dies zu beweisen, erfordert Neuentwicklungen in der Epistemologie (wie wir etwas erkennen und wissen), in der Semiotik (wie Sprache als solche verwendet wird) und in der Philosophie der Wissenschaft (wie empirische Forschung aus Spezialgebieten gelesen und verstanden wird).
Diese Themen werden später in diesem Manuskript unter der Überschrift Anthro-Ontologie diskutiert. Fürs Erste wollen wir hier kühn einige Schlussfolgerungen dieser Arbeit in einem großen Pinselstrich aufmalen, um ein allgemeines Gefühl dafür zu vermitteln, um was es hier geht.
Hier eine Formalisierung des First Principle und First Value der Intimität[4]:
Intimität = Gemeinsame Identität x [Relatives] Anderssein x Gegenseitigkeit (Erkennen + Fühlen + Value + Sinn)
Das ist keine Mathematik. Wie im Weiteren noch ausgeführt, stellen diese Gleichungen den Versuch dar, eine sehr tiefe strukturelle Definition einer universellen metaphysischen Realität klarzustellen.
Ein einfacher Satz wird der Dynamik und der evolvierenden Natur des hier Beschriebenen nicht gerecht, und so haben wir an Sprache und Symbolik gefeilt, bis wir einer Ausdrucksform so nahe wie möglich kamen, die deren Komplexität und das Numinose erfassen konnte.
Wenn wir so fundamentale Realitäten wie diese diskutieren wollen, sind wir gezwungen, die Grenzen der Sprache und der Darstellungsweise zu dehnen.
Weiterhin erkunden wir auch eine bestimmte Weise, wissenschaftliche Texte zu lesen. Philosophie hatte lange Zeit die Rolle, Wissenschaft sich selbst erklären zu müssen. Wissenschaft validiert sich nicht selbst, sondern wendet sich an die Philosophie um Rechtfertigung. Daher beschäftigen sich die besten Wissenschaftler häufig auch mit der Grundlagenphilosophie ihres Forschungsgebietes und schreiben nicht selten am Ende (meist später im Leben) Bücher darüber, die tief philosophisch oder nahezu religiös sind. Das ist auch der Grund, warum ein Großteil der modernen Philosophie – insbesondere die Philosophie der Wissenschaft – als Dienstmädchen der Wissenschaft fungierte, indem sie ihr half zu reifen, sich selbst zu verstehen und die eigenen Grenzen zu begreifen. Das bedeutet, dass wissenschaftliche Praxis und wissenschaftliche Ergebnisse oft Interpretations- und Übersetzungsbedarf haben - gewöhnlich in eine Sprache, die nicht-wissenschaftlich ist, und die der Wissenschaft Bedeutung verleiht.
Kosmo-erotischer Humanismus übernimmt diese Sichtweise, indem er differenzierte Auslegungs- und Deutungsweisen (Hermeneutiken) für die Interpretation verschiedener Texte aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern heranzieht. Unsere Behauptungen erschließen sich unter anderem aus dem Durchleuchten der Ergebnisse spezialisierter wissenschaftlicher Fachgebiete bis die allgemeingültigen Prinzipien und Prozesse, auf die sie alle hinweisen, sichtbar werden. In der philosophischen Tradition von Peirce bis Whitehead wurde das „Bildung einer wissenschaftlichen Metaphysik“ genannt: die Suche nach übergeordneter Kohärenz zwischen und innerhalb verschiedener Wissenschaftsdisziplinen.
Durch dieses Vorgehen erklären wir weder irgendein spezifisches Wissen für ungültig, noch behaupten wir auf bestimmten Studiengebieten mehr zu wissen als die jeweiligen Spezialisten. Stattdessen leisten wir unseren Dienst als Generalisten von hoher Expertise und als Philosophen, die der Aufgabe verpflichtet sind, die Einsichten aller Wissenschaften mit den Weisheitstraditionen und den jüngeren postmodernen Kritiken zu einer Story of Value zusammenzuweben, die Kohärenz in eine zerbrochene Lebenswirklichkeit bringt.
Anwendungen der Intimitäts-Gleichung
Lasst uns nun ganz kurz einige Anwendungsmöglichkeiten dieser Formel in verschiedenen Bereichen ansehen. Wir werden einige dieser Beispiele später noch näher ausführen, während andere so offensichtlich sind, dass wir sie hier nur beiläufig erwähnen.
In der Gleichung ist das Verständnis implizit, dass das Erleben von Intimität immer tiefere Verbindungen generiert, jedoch keine Fusionen. Wir verschmelzen nicht. Es bleibt immer das Paradox von Ich und Wir. Es bleibt immer der dialektische Tanz zwischen Anziehung und Autonomie. Gegenseitigkeit steht immer im Kontext des Andersseins. Das Ziel ist intime Kommunion (Gemeinschaft) und niemals Fusion. Und Anderssein selbst ist immer relativ im Kontext einer tieferen gemeinsamen Identität. Denn es besteht immer eine gemeinsame Identität zwischen Teilen – selbst, wenn sie gleichzeitig die Grundlage unserer individuierten Selbste mit ihrer nicht reduzierbaren Einzigartigkeit in allen Bereichen der Realität ist. Daher gilt die Intimitätsgleichung für alle Dimensionen des Realen – sei es subatomar, molekular, zellulär, organismisch, organisatorisch oder intra- und inter-persönlich. Sie gilt für alle Teile, die sich danach sehnen, an größeren Ganzheiten teilzunehmen – auf Ebene der Materie, des Lebens und des selbstreflektierten Geistigen, vom Atom bis hin zur Amöbe und zu Adam.
Indem wir unsere Karten hier gleich zu Anfang und ohne Umschweife auf den Tisch legen, verlieren wir möglicherweise ein paar Leser, die meinen wir spielen hier leichtfertig und unbesonnen. Dieses Risiko nehmen wir in Anbetracht der Vorteile in Kauf, die es mit sich bringt, eine einführende Zusammenfassung zu geben, die man durchaus mit einer „Spoiler-Warnung“ versehen könnte. So behalten wir im Hinterkopf, dass die Diskussion der Anthro-Ontologie noch kommen wird. Dort werden wir unsere Epistemologie, Semiotik und Philosophie der Wissenschaft offenlegen. Hier betrachten wir nun zunächst ein paar illustrierende Beispiele für das First Principle und den First Value der Intimität.
Physik: Wir schreiben 380,000 Jahre nach dem Urknall. Es gibt keinerlei atomare Struktur im Universum und es gibt noch nicht einmal einen Grund, warum man erwarten könnte, dass ein Atom jemals existieren könnte. Doch entgegen dem vordergründigen zweiten thermodynamischen Gesetz, das besagt, dass das Universum im Laufe der Jahrbillionen in immer einfachere Strukturen zerfallen wird, sehen wir, dass es sich konstant weiter hochschraubt. Das resultiert in der Emergenz von radikalen neuen Ganzheiten mit völlig neuen Eigenschaften und Fähigkeiten, die auf sagenhafte und exponentielle Weise größer sind als die Summe ihrer Teile.
Wenn subatomare Teilchen sich anziehen und in einem Atom zusammenfinden, bleiben sie doch als unabhängige Wirklichkeiten bestehen. Es kommt zu keiner Fusion. Die subatomaren Partikel verschwinden nicht. Aber es entsteht eine höhergradige Verbindung. Ein Atom repräsentiert einen neuen Wert (value), einen neuen Charakter und eine neue Potenz in der Story des Universums. Protonen, Neutronen und Elektronen kreieren eine gemeinsame Identität (im Kontext ihres relativen Andersseins), die „Atom“ genannt wird. Diese emergenten Konfigurationen haben ein völlig neues Set an Fähigkeiten, Funktionen und impliziten Möglichkeiten, von denen keine in den vorherigen einzelnen Teilen vorhanden war. Das heißt, die subatomaren Teilchen, aus denen ein Atom besteht, sind nicht in der Lage, das zu tun oder zu sein, was ein Atom kann. Anders gesagt generieren diese kohärent verbundenen Teilchen einen völlig neuen gemeinsamen Sinn (mutuality of purpose) – sie funktionieren zusammen als ein Atom. In den bahnbrechenden Forschungen auf diesem Gebiet ist die Erkenntnis inbegriffen, dass sich die subatomaren Teilchen gewissermaßen gegenseitig erkennen. Im Zentrum des gegenseitigen Erkennens steht die gerichtete Aufmerksamkeit. Die subatomaren Teilchen fühlen einander. So finden wir sogar schon auf dieser Ebene ein Proto-Verlangen nach Berührung und danach, größere Einheiten zu formen - ein Verlangen, das der Struktur des Intimen Universums als Ganzem auf allen Ebenen inhärent ist.
Dieses Proto-Verlangen ist das innere Fühlen der subatomaren Teilchen.[5]
Die Intensivierung der Intimität zwischen den Teilen generiert die synergistische Emergenz, das neue Ganze, sei es auf der atomaren oder molekularen Ebene oder im Entstehungsprozess einer Zelle aus Makromolekülen. Aus der Perspektive der inneren Wissenschaften betrachtet ist dieses neue Ganze oder diese synergistische Emergenz von einer neuen Qualität und einer neuen Struktur von Intimität motiviert und inkarnierter Ausdruck derselben.
Chemie: Die klassische Definition einer Chemikalie lautet: „jede Substanz, die eine definierte Zusammensetzung hat“. Dies beschreibt jedoch nicht die Bewegungsrichtung hin zu immer größerer Intimität, die für den tatsächlichen chemischen Prozess charakteristisch ist. In Wirklichkeit besteht eine Chemikalie aus multiplen Intimitäts-Konfigurationen, die einander verlocken, ein neues Ganzes zu kreieren. Die Intimitätsgleichung beschreibt die Welt der Chemie, der chemischen Elemente und Reaktionen auf elegante Weise. Eine Chemikalie ist eine Intimitäts-Konfiguration, in der alle Teile (Atome oder Moleküle) eine gemeinsame Identität im Kontext (relativen) Andersseins leben. Das heißt, individuelle Atome existieren weiter, auch wenn sie sich verbinden, um eine größere gemeinsamen Identität zu bilden. Außerdem besteht eine Gegenseitigkeit des Erkennens (sie „wählen“, wo und wie sie sich verbinden und wie sie zusammenpassen), des Fühlens (die Qualität der Anziehung zwischen den unterschiedlichen Teilen), des Wertes (ein gemeinsames Feld von Bedeutung und Interesse zwischen individuellen Atomen und Molekülen) und des Sinns (die einzigartigen Fähigkeiten und Möglichkeiten jeder Chemikalie).
Ein einfaches Beispiel für eine Chemikalie, die häufig in der Natur vorkommt, ist Wasser. Wir alle lernen schon früh in der Schule, dass Wasser aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom besteht. Der Begriff Atom ist einerseits wissenschaftlich richtig, andererseits verwirrend, was die wirkliche Beschaffenheit von sowohl Wasserstoff als auch Sauerstoff betrifft. Jedes dieser beiden Atome ist genauer gesagt – nicht poetisch, sondern wortwörtlich, strukturell und qualitativ – eine einzigartige Konfiguration von Intimität, von intimer Kohärenz. Und diese einzigartige Konfiguration wird durch ihre einzigartige Anziehung füreinander zusammengezogen. Eine chemische Reaktion bezieht sich formell auf eine Veränderung einer Chemikalie. Allgemeiner gesprochen kann eine chemische Reaktion als der Prozess verstanden werden, durch den sich eine oder mehrere Substanzen transformieren, um eine oder mehrere andere Substanzen zu bilden. Das bezieht sich nicht notwendigerweise auf einen physikalischen Prozess, etwa wenn flüssiges Wasser zu Eis gefriert, sondern eher auf eine Veränderung der Intimitäts-Konfiguration, des Kohärenz-Musters der Atome, aus denen das Wassermolekül besteht. Man könnte auch sagen, eine chemische Reaktion verändert die Struktur und Qualität von Intimität. Danach kehren die Atome nie wieder in ihren vorherigen Zustand zurück, es sei denn es findet eine neuerliche chemische Reaktion statt.
Biologie: Anwendungsbeispiele der Intimitätsformel finden sich in der biologischen Welt natürlich in Hülle und Fülle. Die Zellen selbst entspringen der Intensivierung der Intimität unter den Makromolekülen, die den ersten Zellen vorausgingen. Und Zellen selbst sind selbstverständlich Intimitäts-Konfigurationen vieler unterscheidbarer Zellorganellen und Zytoplasma, die mit dem Kernkörperchen (Nukleolus) kommunizieren, während all das von der Zellmembran zusammengehalten wird, die ihrerseits semipermeabel ist und dadurch eine metabolische Intimität mit der Zellumgebung ermöglicht.[6]
Vor dem Hintergrund der oben gegebenen Beschreibungen bezüglich Chemie und Physik wird es leichter zu sehen, wie die Gleichung für die Ebene des Lebendigen zutrifft. Die Teile der Zelle haben eine gemeinsame Kernidentität im Kontext (relativen) Andersseins und gleichzeitig eine Gegenseitigkeit des Erkennens, was ihr Zusammenwirken ermöglicht, was wiederum durch eine Gegenseitigkeit des Fühlens möglich wird, was sich in Verhalten ausdrückt, das auf gemeinsame Werte und Sinn hinweist.
All das bringt die einzigartigen Fähigkeiten der Zelle im Zusammenwirken mit ihren konstituierenden molekularen Elementen hervor.
Das Gleiche kann man sogar noch offensichtlicher von multizellulären Organismen sagen, in denen verschiedene Zellen zu immer komplexeren Formen und Strukturen von Intimität zusammengezogen werden. Die Intimitätsformel trifft für die gesamte biologische Welt zu, was leicht und auf den ersten Blick zu sehen ist, wenn die Grundmuster erst einmal klar genug erkannt sind.
Betrachte einmal deinen eigenen Körper, die kostbare menschliche Form, die aus dem einige Monate dauernden Prozess der Embryogenese in der Gebärmutter deiner Mutter hervorgegangen ist. Wie alle komplexen Organismen beginnen wir als eine kleine Anzahl von Zellen, aus denen wir als das Ergebnis eines komplexen Prozesses von Differenzierung und Integration hervorgehen. Dieser Prozess beinhaltet eine hierarchische Integration von Zellen, Organen und Organsystemen, die jedes für sich separat sind, aber eine gemeinsame Identität im Kontext relativen Andersseins teilen. Einer der Refrains im kosmo-erotischen Humanismus beschreibt das so: „Du lebst in einem Intimen Universum, und das Intime Universum lebt in dir.“
Nach ihrer Geburt sind komplexe Organismen davon angezogen, intime Konfigurationen mit weniger-komplexen Organismen zu bilden, was sich als aufeinander bezogene Flüsse physiochemischer Elemente verkörpert, die wir in ihrer Summe „Ökosysteme“ nennen. Hier kommen einzigartige und verschiedene Elemente auf einer höheren Ebene als symbiotische Lebensgewebe zusammen. Komplexe Prozesse gegenseitigen Erkennens und gemeinsamer Identität im Kontext relativen Andersseins finden sich überall in der Natur. Die wechselseitigen Abhängigkeiten, die die Biosphäre ausmachen, sind in Wirklichkeit riesige Intimitäts-Konfigurationen.
Psychologie: Wie bereits ansatzweise kurz erwähnt, ist das First Principle und First Value der Intimität unserer eigenen Ich-Erfahrung direkt zugänglich. Auf die zentrale Rolle des Strebens nach Intimität als Teil der menschlichen Erfahrung muss in ihrer Offensichtlichkeit kaum hingewiesen werden. Für die meisten Menschen wird das Leben sehr schnell unerträglich und nicht mehr lebenswert, wenn sie einer Situation ausgesetzt sind, in der sie keinen Kontakt zum inneren Erleben eines anderen Menschen aufnehmen können, wie zum Beispiel während einer Einzelhaft im Gefängnis. Es ist ein fundamentaler Teil der Lebensqualität selbst, das Bedürfnis nach Intimität mit anderen und nach einer umfassenderen Identität mit Gegenseitigkeit des Erkennens, Fühlens, des Wertes und Sinnes zu befriedigen. Wir finden das in den Forschungsergebnissen der Bindungstheorie und bei psychotherapeutischen Ansätzen, die sich mit frühen Bindungsmustern beschäftigen. Auch die Ergebnisse der kognitiven Entwicklungspsychologie und der Neurowissenschaften bestätigen das und betonen inzwischen die Wichtigkeit intimer zwischenmenschlicher Beziehungen für die Entwicklung von Intelligenz und Bewusstsein.
Die Sehnsucht und der Drang nach Intimität drücken sich in immer tieferem Kontakt und immer größerer Ganzheit aus. Das ist Teil der essenziellen Natur der Existenz. Wir wissen in unserem Innersten, dass intime Hingabe ultimativ bedeutungsvoll ist, während dagegen die Abwertung der Intimität eine essenzielle Qualität im Kosmos verletzt.
Wir erleben die Intimität mit unseren Geliebten nicht als bedeutungslose evolutionäre Anpassung, die nur auf ein bestimmtes soziales Konstrukt reduziert werden kann, in dem Intimität zu bestimmten zeitlichen Momenten und Orten auftaucht. Intimität ist vielmehr buchstäblich eine Überlebensnotwendigkeit. Die Forschung zur Bindungstheorie belegt, dass ein Säugling ohne die Liebe und Aufmerksamkeit einer fürsorglichen mütterlichen Präsenz stirbt, selbst wenn seine biologischen Bedürfnisse (Nahrung, Wasser, Wärme) adäquat befriedigt werden.
Dies trifft auch auf Primaten und andere Tiere zu. Der Drang nach Intimität ist so grundlegend für den evolutionären Impuls, der in uns und als uns pulsiert, dass er Vorrang vor allem anderen hat. Das bedeutet gemäß unserer Definition, dass Menschen sich nach authentischer gemeinsamer Identität sehnen. Wir brauchen es auf irgendeine Weise in Beziehung zu sein, ohne die Integrität unserer Autonomie zu verlieren. Wir brauchen die Erfahrung einer gemeinsamen Identität im Kontext relativen Andersseins. In diesen Formen von Gruppenzugehörigkeit, Freundschaft oder Partnerschaft erkennen wir uns gegenseitig- wir richten unsere Aufmerksamkeit aufeinander - was sowohl größere Uniqueness (Einzigartigkeit) in jedem Einzelnen, in unseren Unique Selves (einzigartigen Selbsten), als auch das Erblühen unseres kollektiven Unique We (einzigartigen Wir) fördert. Weiterhin besteht eine Gegenseitigkeit des Pathos – wir fühlen einander. Intimität bedeutet in diesem Zusammenhang: ich kann mich selbst fühlen, wie ich dich fühle. Und ich fühle auch wie du mich fühlst.
Intimität vertieft sich mit jeder weiteren Schleife unseres gegenseitigen Fühlens. Dennoch sind Erkennen und Fühlen immer noch unzureichend für volle Intimität. Wir sehnen uns nach einer dritten Dimension – nach der Gegenseitigkeit von Value (Wert), was in der Folge eine vierte Dimension hervorbringt: die Gegenseitigkeit von Sinn (Purpose): wir streben danach, in einer gemeinsamen Story of Value zusammenzuleben und uns auf ein gemeinsames Ziel zuzubewegen.
Intimität wird, so wie sie in der Gleichung der inneren Wissenschaft formuliert ist, auch in den äußeren Wissenschaften stillschweigend als die belebende Architektur des Kosmos anerkannt.
Wir haben das in den vorhergehenden Abschnitten gesehen, die in ihren Aussagen gut von moderner Systemtheorie und deren späteren Formen der Komplexitätstheorie und Chaostheorie gestützt werden, welche zusammengenommen richtigerweise als eine Art Mathematik der Intimität verstanden werden können. In all diesen Disziplinen wird Realität eingehend als ein intimes Universum beschrieben, ganz im Sinne der Intimitäts-Gleichung. Die gleiche Anerkennung der intimen Architektur des Kosmos, so wie sie sich auf der Ebene der menschlichen Existenz ausdrückt, ist das, was die zeitgenössischen Sozialwissenschaften als Einsamkeits-Epidemie bezeichnen.
Dieses Phänomen wird sogar von renommierten Medizinern als primärer ursächlicher Faktor für verschiedene Formen persönlichen und kollektiven Zusammenbruchs genannt. Dieselbe Erkenntnis des intimen Universums wird auch durch die uralten Texte der inneren Wissenschaften heraufbeschworen, wie es zum Beispiel in der Genesis geschrieben steht,
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Und tatsächlich ist das Wort ‚gut‘ der Schlüssel-Refrain im gesamten ersten Kapitel der Genesis. Nach jedem Stadium der evolutionären Emergenz der Welt,[7] steht im Text: „Und Gott sah, es war gut.“ Doch dann, im zweiten Kapitel heißt es dann auf einmal: lo tov heyot ha’adam levado: “Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ – oder „einsam sei.“ All das Gute der Realität ist „nicht gut“, wenn wir einsam sind.
Einsam zu sein ist nicht nur ein menschlicher neurotischer Zustand – es bedeutet eine Verletzung der wesentlichen Natur des Lebens, die in ihrer Essenz intime wechselseitige Verbundenheit und Ganzheit ist. Einsam zu sein bedeutet nicht-intim zu sein, abgeschnitten von der Innerlichkeit eines anderen, isoliert in einer oberflächlichen Existenz. Einsam zu sein bedeutet unfähig zu sein, die Tiefen deiner Innerlichkeit mit einem anderen Wesen teilen zu können. Einsam zu sein bedeutet verkannt zu sein. Nur für dich auf der Außenseite zu leben, ist nicht-erotisch und nicht-intim, egal wie erfolgreich du auf konventioneller Ebene bist. Einsam zu sein bedeutet getrennt und nicht ein Teil von etwas zu sein (Wortspiel: apart= getrennt; a part of=ein Teil von). In Wahrheit ist alles Teil des großen Ganzen. Im Gegensatz zu der berühmten Sichtweise des englischen Philosophen Thomas Hobbes aus dem 17. Jahrhundert, der einer der Wegbereiter der inneren Kultur des modernen Westens war, sind Menschen nicht in einem natürlichen Kriegszustand, sondern vielmehr in einem natürlichen Zustand von intimem, dynamischem Eros.
Organisationen: Auf der Ebene großer Unternehmen oder Nationalstaaten funktionieren Abläufe nur, wenn es vielfältige „Abteilungen“ gibt. Wenn das Unternehmen erfolgreich sein soll, ist es erforderlich, dass diese Abteilungen eine zugrundeliegende gemeinsame Identität haben. Jede Unternehmensberaterin weiß, dass Behörden, Unternehmen und Abteilungen zusammenbrechen, weil Untergruppen separate Identitäten entwickeln, die sich nicht nur voneinander und von der gemeinsamen Identität der größeren Gruppe abgrenzen, sondern sich von ihr entfremden.
Jede Abteilung entwickelt dann eine Art Unabhängigkeit, die sie weiter von der gemeinsamen Identität des Ganzen abspaltet, während Gewinn-/Verlust-Metriken zunehmend den Unterton ihrer Auseinandersetzungen bestimmen. Das Gefühl einer größeren gemeinsamen Identität bricht zusammen.
Damit die Dinge in einer Organisation funktionieren – sei es in einer Abteilung, einem Gremium, einer politischen Partei oder einem Staat – muss jeder Teil eine intime Kultur von gemeinsamer Identität im Kontext relativen Andersseins pflegen. Es muss eine gemeinsame Identität zwischen den unterschiedenen Teilen geben, die gepaart ist mit einer Gegenseitigkeit des Erkennens, der Fähigkeit sich gegenseitig zu fühlen, einer gemeinsamen Wertegrundlage (ground of value) und einem gemeinsamen Sinn.
Jede Abteilung ist scheinbar unabhängig, steht jedoch im Kontext einer tiefen gemeinsamen Identität. Auf kollektiver Ebene wollen wir nicht, dass individuelle Religionen, Nationen oder andere gewachsene Quellen von Gruppenidentität und -organisation ausradiert werden. Gesunde, individualisierte Nationalstaaten und Religionen verwirklichen ihre größere gemeinsame Identität mit allen anderen Nationalstaaten oder Religionen im Kontext ihres Andersseins. Alle Nationen und Religionen sind einzigartig und können sich beteiligen und ihre jeweiligen Instrumente in dem, was wir eine Unique Self Symphony (Symphonie einzigartiger Selbste) nennen, spielen.
Jedes Kollektiv und jede individuelle Person bringt ihren eigenen spezifischen Ton, Melodie und Klangfarbe ein – im Kontext des Andersseins -, doch die zugrundeliegende Musik ist eine gemeinsame - der Kontext gemeinsamer Identität.
Intimität als First Principle und First Value richtig zu verstehen und wertzuschätzen bedeutet, dass wir keinen homogenisierten Globalismus anstreben, wenn wir daran gehen, die Politik umzustrukturieren, um den globalen Herausforderungen zu begegnen. Dies würde dem Totalitarismus Tür und Tor öffnen, mit seinem Terror von Fusion und Transparenz statt Intimität. Stattdessen brauchen wir globale Föderationen, die aus starken individuierten Nationalstaaten und Religionen bestehen. Weltzentrische Intimität erfordert nicht das Auslöschen gesunder bio-regionaler und kultureller Intimität. Unter den Nationen brauchen wir gemeinsame Identität im Kontext des relativen Andersseins, wo wir uns nicht nur gegenseitig (an-)erkennen und zutiefst fühlen, sondern an einem gemeinsamen Field of Value teilhaben. Dies erzeugt in der Folge eine neue Kohärenz, aus der eine Gegenseitigkeit des Sinns erwächst. Aufgrund der fundamentalen Natur des Wertes der Intimität, kannst du nun vielleicht sehen, wie diese Beispiele nahezu endlos für viele Lebensbereiche angeführt werden können.[8] Das Ziel hier ist, einen groben Überblick darüber zu geben, was mit einem First Principle und First Value gemeint ist, so dass darüber schon zu Anfang genug Klarheit besteht, wenn sich der Text dann im Folgenden weiter entfaltet.
Vieles bleibt an diesem Punkt unausgesprochen. Beispielsweise bleibt das Thema von Kontinuität und Diskontinuität, die überall in der evolutionären Entwicklung auftaucht, eine zentrale Frage. Natürlich ist die Erfahrung der Intimität grundlegend anders für eine Person und für eine Zelle. Und gleichzeitig gibt es natürlich tiefgründige Kontinuitäten, in denen wir einige der essenziellsten Aspekte der menschlichen Erfahrung bereits in allen vorherigen Evolutionsstadien vorgezeichnet finden. Weitere relevante Fragen sind die der gegenseitigen Einbeziehung aller Principles und Values, ihre gleichzeitig ewige und evolvierende Natur, und ihr Unterworfen Sein gegenüber verschiedenen Ebenen der Interpretation und Instanziierung. All das bleibt zu diskutieren. Bevor wir jedoch weiter in die Tiefe gehen, müssen wir uns erneut mit dem motivierenden Impuls hinter dieser Arbeit verbinden.
Intimität mit allen Dingen während der Meta-Krise: Das Endspiel der Menschheit in einen Triumph verwandeln
Das Zentrum für Welt-Philosophie und Religion basiert auf der Idee, dass es lebensnotwendig ist, neue Antworten auf die großen philosophischen und spirituellen Fragen – Wer bin ich? Wo bin ich? Was sollte ich tun? -zu entwickeln, um den Vektor der Gegenwart zu verändern und eine neue Zukunft zu erschaffen. Es muss eine Basis für ein neues kulturelles Erwachen geschaffen werden, da das für den Zusammenhalt einer offenen und vitalen globalen Gesellschaft unabdingbar ist.
Die Alternative ist der Aufstieg und die Dominanz geschlossener Gesellschaften oder die Aufkündigung der Zukunft selbst. Daher ist die Formulierung einer gemeinsamen Grammar of Value – verwurzelt in First Principles und First Values und eingebettet in eine Story of Value, aus der neuartige Identitäten und Gemeinschaften erwachsen können, essenziell für die kollektive Zukunft der Menschheit. Diese Grammatik ermöglicht es uns in einer Weise zu sprechen und zu leben, durch die wir auf die sich abzeichnenden Bedrohungen katastrophaler und existenzieller Risiken antworten können, die dieser einzigartige historische Moment mit sich bringt, in dem wir mit unregulierten exponentiellen Technologien und einer globalen Intimitätsstörung konfrontiert sind. Wir brauchen eine Antwort auf die wahrscheinliche Selbstauslöschung unserer Spezies, auf den zweiten existenziellen Schock. Und diese Antwort muss im Kontext der zusammenhängenden und sich kaskadenartig auswirkenden Krisen in allen großen Sektoren der Zivilisation – d.h. der Meta-Krise – gefunden werden. Was auch immer geschieht, eine grundlegende Rückkehr zur Wirklichkeit ist in Reichweite, wenn sich die Menschheit wieder darauf besinnt, wie das Universum funktioniert. Natürlich stellt sich die Frage: „Was hat das Schreiben von Büchern über Metaphysik und Value mit der Meta-Krise zu tun?“
Stell dir die Zivilisation als ein komplexes Gebilde folgender vielschichtiger und wechselseitig bezogener Elemente vor:[9]
SUPERSTRUKTUR: beinhaltet Sets von Weltanschauungen, Grammatiken, Ideen, Philosophien, Einsichten, Stories, Weisheit, Prinzipien und Werten, die eine Gesellschaft mit Leben füllen.
SOZIALSTRUKTUR: beinhaltet die Übereinkünfte, Rechtssysteme, Verträge, Geschäftsmodelle und Regelstrukturen einer Gesellschaft.
INFRASTRUKTUR: beinhaltet die physisch gebauten Umgebungen und Technologien, die für die materiellen Bedürfnisse sorgen, die von Sozialstruktur und Superstruktur benötigt werden.
Dieses Modell ist die strategische Triebfeder hinter unseren Schriften zum kosmo-erotischen Humanismus, welche einen Versuch darstellen, zu dem Entwurf einer neuen Superstruktur für die Gesellschaft beizutragen. Kosmo-erotischer Humanismus ist eine Philosophie, die eine neue Story of Value anbietet, die in der Lage ist, unsere wankende Zivilisation neu auszurichten. Wir wollen eine breite kulturelle Bewegung initiieren und dazu inspirieren, ähnlich wie es der Existenzialismus und die Romantik in ihrer Zeit getan haben. Wir erheben unsere Stimme gemeinsam mit denen, die in dem Bestreben zusammenarbeiten, die Kulturen der Menschheit durch diese gefährlichste aller Zeiten hindurchzusteuern. Wir sehen natürlich, dass Superstruktur, Sozialstruktur und Infrastruktur voneinander abhängen und permanent gemeinsam auftreten. Gleichzeitig sehen wir es so, dass die Superstruktur – die Story, die wir uns über das Universum erzählen, die unsere Identitäten und Gemeinschaften formt – als die Grundursache für die Bildung einer Gesellschaft verstanden werden muss.
Wenn man nun die Sehnsucht hat, den Entwicklungsverlauf der Gesellschaft zu verändern, um Leid zu verhindern und das größere Gute zu verwirklichen, kann nur die Weiterentwicklung der Story, die die Gesellschaft animiert, der effektivste Weg sein, um dieses Ziel zu erreichen.
Diese Story weiterzuentwickeln, bedeutet den Quellcode (source code) weiterzuentwickeln, der durch alle drei Ebenen hindurch wirkt. Daher liegt der Fokus unserer Arbeit auf der Entwicklung einer Superstruktur, die notwendig ist, um eine kulturelle „Aufklärung“ zu bewirken, die auf einer neuen, sich entwickelnden Ordnung gemeinsamen Wertes basiert. All dies ist notwendig, um effektiv auf die vielleicht folgenreichste und schnellste Veränderungsperiode der Geschichte zu antworten.
Wir haben bereits den Begriff Meta-Krise eingeführt im Widerhall mit vielen anderen, die diesen Begriff verwenden, um unseren komplexen, zugespitzten, geschichtlichen Moment zu bezeichnen. Wir betrachten die Meta-Krise als eine Reife-Krise – entweder wird die Menschheit radikal verantwortlich und dem Leben ergeben oder es ist das Ende der menschlichen Erfahrung. Die planetare Situation ist nicht irgendein ‚großer Fehler‘ oder das Ergebnis menschlicher Bösartigkeit oder unerlösbaren Lasters. Die Zivilisation ist schon seit dem ersten Pflug auf dem Weg in Richtung einer Transformation von planetarischer Größenordnung und die Ressourcen der Erde werden seit Jahrtausenden immer weiter in exponentiell wachsendem Maße ausgebeutet. Die nächsten paar Generationen werden eine Zeit durchleben, in der eine neue Reifestufe erreicht werden muss – das heißt, eine Weisheit bezüglich Value muss ins Herz der Kultur hinein erwachsen, die proportional zu unseren technischen Möglichkeiten ist. Andernfalls ist die selbstverursachte Auslöschung unvermeidbar und steht unmittelbar bevor.
Industrialisierte Ausbeutungsmethoden und Umweltverschmutzung haben planetarische Maßstäbe erreicht und überschreiten die globalen ökologischen Grenzen, indem sie die Biosphäre als Ganzes dysregulieren. Es gibt viele wissenschaftliche Belege dafür, dass dies sehr wahrscheinlich innerhalb etwa einer Generation zum Überschreiten vielfacher Kipppunkte führen wird, mit der Folge unaufhaltbarer Degradierung und Verarmung aller irdischen Systeme, während die Biosphäre in eine selbstverstärkende, tödliche Abwärtsspirale stürzt: tote Ozeane, Verwüstung, Ende der jahreszeitlichen Rhythmen und katastrophaler Verlust an Biodiversität. Das bedeutet den Tod von Gaia – das Ende der biologischen, lebensstiftenden Systeme der Erde – und falls Menschen weiter überleben, so wird das unter unvorstellbar extremen Bedingungen sein.
Als würden sie sich darauf vorbereiten, hat tatsächlich eine kleine Anzahl an Menschen begonnen, die Werkzeuge und Methoden sozialer Massenkontrolle zu perfektionieren. Darin nähern sie sich den Grenzen der menschlichen Natur und untergraben die modernen Vorstellungen von freier Wahl, Wirksamkeit und Selbst. Digitale Technologien werden immer schneller und tragen zu den schon lange bestehenden Bestrebungen bei, die Politik zu überwinden, indem sie Wissenschaften zur Vorhersage und Manipulation menschlichen Verhaltens einsetzen. Wir betrachten das als die Emergenz eines Techno-Feudalismus von planetarischer Größenordnung, eine These, die im letzten Abschnitt dieses Manuskripts diskutiert wird. Technologien, die sich um die Verbreitung von KI-gestützter sozialer Kontrolle scharen, stellen ein existenzielles Risiko dar – nicht nur, weil sie uns alle töten werden, sondern weil sie das Potenzial haben, uns in untermenschlichen Lebensformen gefangen zu setzen. Diese Möglichkeit wird im Weiteren als Tod unserer Menschlichkeit diskutiert.
Natürlich haben wir die Möglichkeit einfach alles und jeden umzubringen. Und da ein Großteil der gegenwärtigen Kultur uns gegenüber der Tatsache unserer ständig bevorstehenden selbstverursachten Auslöschung abgestumpft hat, müssen wir uns erneut vergegenwärtigen, was seit 1945 offensichtlich ist. Menschen haben Waffen und Technologien entwickelt, die in der Lage sind, alles komplexe Leben auf der Erde zu zerstören – Nuklearwaffen, exponentielle Rechenleistung, synthetische Biotechnologie. Diese technologischen Mächte nehmen immer weiter zu und werden immer weniger reguliert. Während Nuklearwaffen noch relativ einfach nachzu verfolgen und zu zählen sind, gehen heute die Bedrohungen von schwer zu entdeckender KI, von Drohnen und psychologischer Kriegsführung aus, die in Kombination mit nicht-staatlichen Akteuren und zunehmenden Mangelsituationen eine viel existenziell bedrohlichere Gesamtsituation zeichnen, als das wofür der Atompilz steht.
Weltuntergang durch ein Versehen oder durch Krieg ist so nah wie nie zuvor. Im Weiteren diskutieren wir die Möglichkeiten bezüglich des Todes unserer Menschlichkeit.
Von der Krise zum Crossing (Überquerung)
Nichts in diesen oben dargelegten Bedrohungen unserer Menschheit und des Lebens selbst bewegt sich weiter, ohne dass sich etwas in unserer Wertetheorie bewegt. Später werden wir in diesem Dokument die vielfältigen Zusammenhänge zwischen dem Zusammenbruch von Value im Zentrum der Kultur und dem Entstehen von existenziellen und globalen katastrophalen Risiken als Kennzeichen moderner Zivilisation diskutieren. Solange die Menschheit keine gemeinsame Story of Value darüber hat, was wir wertschätzen, sollten – und sich schon gar nicht darüber einig ist, ob Value selbst über unsere sozialen Konstrukte hinausgeht – wie können dann kollektive Schritte unternommen werden, um den Tod von Gaia selbst, den Tod unserer Menschlichkeit und den Tod unserer Spezies zu verhindern? Ohne eine gemeinsame universelle Grammar of Value – verwurzelt in First Principles und First Values als Kontext unserer Verschiedenheit – wird die Menschheitsfamilie in Abwesenheit von Intimität immer weiter zerfallen und sich letztlich selbst vernichten. Es ist nur solch eine Weiterentwicklung des Quellcodes der Kultur und des Bewusstseins – eine Art Crossing auf die nächste Ebene der menschlichen Emergenz, die auf die Meta-Krise unserer Zeit antworten kann.
Wir wählen den Begriff Crossing mit einer gewissen zitternden Absichtlichkeit. Die Phrase stammt aus der Philologie und der kollektiven Erinnerung der inneren Wissenschaft der hebräischen Weisheitstradition. Das Wort „hebräisch“ selbst leitet sich von den Worten „eber“ oder „ever“ ab, was Crossing bedeutet. Das Wort steht daher in Bezug zu Abraham, der auch als Ibrahim bekannt ist. Diese Texte der inneren Wissenschaften deklamieren mit dem Bild des Euphrats vor Augen, der durch den fruchtbaren Halbmond mäandert: „Die ganze Welt ist auf einer Seite, und Abraham kreuzt hinüber auf die andere Seite.“ Ein Hebräer ist jemand, der auf die andere Seite hinüber wechselt. Abraham wird in den Traditionen der Achsenzeit des Westens und des Ostens als wegweisender Held gesehen, ein früher Vertreter des Homo amor.
Doch das Wortspiel ist sogar noch kraftvoller und präziser: Die beiden Worte „hebräisch“ und „Crossing“ beinhalten in der hebräischen Schrift-Sprache die gleiche drei-Buchstaben-Wurzel wie das Wort „Vergangenheit“. Die Implikation des Textes ist, dass Abraham selbst in archetypischer Weise in einer Zeit zwischen Welten und zwischen Storys inkarniert. Abraham wird in einem Text der inneren Wissenschaften übersetzt als: „der zu sich selbst voran geht“ – er kreuzt hinüber von der Erinnerung an die Vergangenheit zur Erinnerung an die Zukunft. Er inkarniert als kollektiver Held, als eine der Imaginal-Zellen, die die Raupe sich in einen Schmetterling verwandeln lassen, während sie sich auflöst. Abraham ist der Grenzen-Überquerer, der die Tyrannei des Gestern bricht und ein mögliches Morgen schafft.
Abraham ist der Held, dessen Herz, Körper und Geist mit Erinnerungen an die Zukunft kodiert sind. Was hier angeboten wird, ist der Beginn eines Gesprächs. Die Liste der First Principles und First Values – ebenso wie ihre begleitenden Gleichungen, die im letzten Teil dieser Arbeit auftauchen – ist unerschöpflich. Es ist als repräsentativer Text für eine Klasse philosophischer Arbeiten gedacht, von denen wir glauben, dass sie dringend gebraucht werden. Diejenigen, die so privilegiert sind, sich über die Superstruktur der Zukunft Gedanken zu machen, müssen daran arbeiten, Value zu rekonstruieren, und daran, den Sinn für das, was real ist und was wertgeschätzt werden sollte, (wieder) ins Zentrum der Kultur zu setzen.
Fußnoten, siehe unten.
Details zur deutschsprachigen Studiengruppe:
Ort: Zoom, offene Gruppe, Quereinstieg möglich
Buch: englische Originalausgabe: https://www.amazon.de/First-Principles-Values-Propositions-Cosmoerotic/dp/B0CS85WYVX/
Zeit/Frequenz: ca. 1x monatlich, voraussichtlich Montagabend 19.00.
1.Termin: voraussichtlich 14. Oktober; Benachrichtigung über E-Mail
Anmeldung per E-Mail: zentrum (at) worldphilosophyandreligion.org
Bitte melde Dich, auch wenn Du nicht zu dieser speziellen Studiengruppe kommen kannst, aber prinzipiell Interesse an deutschsprachigen Veranstaltungen hast.
Kosten: frei; Spenden sind hochwillkommen (und werden für anstehende Kosten der Übersetzung verwendet)
Zunächst werden wir nur diese Einleitung auf Substack veröffentlichen. Weitere Textblöcke werden den Teilnehmerinnen per E-Mail zum Studieren zugeschickt, da es sich um noch nicht final lektorierte Texte handelt. Wir freuen uns ausdrücklich über Feedback zu Inhalt, Stil und Unklarheiten.
Wir stehen mitten im Prozess des Übersetzens dieses und anderer Bücher und finanzieren uns ausschließlich über Spenden. Ein einmaliger Beitrag oder noch besser ein bezahltes Substack-Abonnement (ca. 9,-/Monat) könnte Dein Beitrag zur Verbreitung dieser wertvollen Texte im deutschsprachigen Raum sein.
Viva Homo amor!
Kerstin Tuschik und Dorothea Betz
Fußnoten
[1] Wir sind keineswegs die einzigen Denker, die das vorschlagen. Wir verweisen z.B. auf Ian McGilchrists The Matter With Things, worin er einen ähnlichen Faden aufgreift wie der hier ausgearbeitete, ein Faden, der letztlich auf den Umwandlungen der kabbalistischen Tradition über westliches Denken und deutschen Idealismus bis hin zu Whitehead basiert. Diese Übereinstimmung mit McGilchrist wurde entdeckt, nachdem der erste Entwurf dieses Manuskripts bereits vervollständigt war.
[2] Dieses Verständnis von Bewusster Evolution ist zentral für den kosmo-erotischen Humanismus. Wir kommen später in Proposition elf dieses Manuskripts darauf zurück.
[3] Für diejenigen, die wegen des naturalistischen Fehlschlusses beunruhigt sind und wegen den Schwierigkeiten zwischen den beschreibenden Sprachen der Wissenschaften und den verordnenden Sprachen der Ethik und Wertetheorie, siehe Proposition 37.
[4] In Proposition 24 gibt es eine Tabelle mit elf dieser dynamischen Gleichungen, und viele mehr sind übrig, die in späteren Werken vertieft werden. Sei also auf etwas fruchtbare Verwirrung vorbereiten.
[5] Whitehead (Process and Reality. Gifford Lectures, 1927–1928) nannte das “Prehension“ oder die Verlockung der kreativen Emergenz. Die hebräische Weisheitstradition nach Luria (siehe Gafni’s Radical Kabbalah, 2015) nannte das Teshuka – das paradoxe Spiel zwischen Anziehung und Abstoßung im Herzen des Kosmos.
[6] Der Mathematiker und Komplexitäts-Theoretiker Stuart Kauffman (Der Öltropfen im Wasser, 1995, Originaltitel: At Home in the Universe) spielt in folgender Passage in einer wissenschaftlicheren Weise auf den schöpferischen Charakter der Intimität an: “In dem Maß wie die Diversität der Moleküle in unserem System zunimmt, wird die Reaktionsrate auf Chemikalien oder von Rändern zu Knoten sogar noch höher. In anderen Worten, die Reaktionsgraphik bekommt immer mehr Linien, die chemische Punkte verbinden. Die Moleküle im System sind ihrerseits wieder Kandidaten, die in der Lage sind, weitere Reaktionen zu katalysieren, durch die die Moleküle selbst geformt werden. Wenn die Reaktionsrate der Chemikalien steigt, vergrößert sich auch die Rate der Reaktionen, die im System katalysiert werden. Wenn die Anzahl der katalysierten Reaktionen etwa der Anzahl der chemischen Punkte entspricht, bildet sich ein gigantisches Netz aus katalysierten Reaktionen und ein kollektives autokatalytisches System springt plötzlich ins Dasein. Ein lebender Metabolismus katalysiert. Leben entsteht als Phasenübergang.
[7] Die Tage in der Genesis beziehen sich nicht auf vierundzwanzig-Stunden Abschnitte der Zeit, wenn man den Text auch nur ansatzweise ernsthaft liest. Tage beziehen sich—sehr offensichtlich—auf Blöcke evolutionärer Zeit, eine Idee die sehr verbreitet in der Midrash und mystischen Literatur auftaucht. Für ein vertieftes Studium von Evolution und Genesis ist es sinnvoll mit der Arbeit von Daniel C. Matt: Der Urknall-Der Geist hinter der Schöpfung (Jewish Lights 1996) zu beginnen.
[8] Zukünftige Schriften des kosmo-erotischen Humanismus werden noch weitaus mehr Beispiele ausführen
[9] Hier folgen wir Habermas’ sehr einflussreicher Rekonstruktion des historischen Materialismus wiedergegeben im Licht der Sprache von Marvin Harris, der uns ein nicht-reduktionistisches Modell für die Entwicklung sozialer Systeme in drei Stufen gibt.
Ich freue mich schon sehr auf die Studiengruppe.